Alles fürs Klima

Die Letzte Generation ist unbequem – bedingungslos. Damit kommt kaum jemand klar. Über eine Bewegung zwischen Avantgarde und Staatsfeind Nr. 1. Von Silvia Bose

Viertel-Nr. 50
Foto: Marco Molitor

Keine Hasskappe, kein Bolzenschneider, keine Kampfsport-Posen. Die Aktivist*innen der ›Letzten Generation vor den Kipppunkten‹ (LG) zeigen ihr Gesicht, nennen ihren Namen und riskieren ihre körperliche Unversehrtheit. Sie stehen mit aller Konsequenz zu dem, was sie tun: Sie kleben sich auf Straßen, Landesbahnen und an Flugzeugen fest, besetzen Hörsäle und spritzen Brei auf verglaste Kunstwerke. Alles mit dem einen Ziel, Aufmerksamkeit für ihre Sache zu erregen. Die alle angeht: Die Bedrohungen durch den menschengemachten Klimawandel und die kurze Zeit, die noch bleibt, eine lebenswerte Zukunft zu erhalten.
Zur LG gehören auch die beiden Bielefelder*innen El Blodig (19, Berufsfreiwilligendienst) und Christian Behrends (56, Ingenieur). Sie waren unter den Aktivist*innen, die sich Mitte August auf mehrere Straßen der Stadt klebten, die freie Fahrt für freie Bürger*innen kurzzeitig ausbremsten und der Polizei einen harten Arbeitstag bescherten. Weil die auch von einem Heimspiel der Arminia gefordert war. »Ich bin immer froh, wenn die Polizei vor Ort ist und die Situation kontrolliert«, versichert Behrends.
Er und seine Mitstreiter*innen haben trainiert, ruhig zu bleiben, keinen aktiven Widerstand zu leisten und zu ertragen, wenn Autofahrer*innen sie geradezu hasserfüllt beschimpfen und handgreiflich werden. Oder Polizist*innen sie von der Straße bugsieren und dabei mit Schmerzgriffen nachhelfen. »Aber was ist das schon im Vergleich zu dem, was auf uns zukommt, wenn wir den Klimawandel nicht stoppen«, fragt Blodig.
Für sie und neun andere endete die Aktion in einer Gefangenen-Sammelstelle. Sie müssen sich wegen des Verdachts, Nötigung begangen und gefährlich in den Straßenverkehr eingegriffen zu haben, verantworten. Elf weitere Personen, die sich nicht angeklebt hatten, wird vorgeworfen, gegen das Versammlungsverbot verstoßen zu haben. Die Polizei prüft noch, ob sie ihnen die Kosten für den Einsatz in Rechnung stellt. Möglich macht das eine kürzlich vom Land NRW geänderte Gebührenordnung. Unter Umständen können bis zu 50.000 Euro anfallen.

Mit Ermittlungen abschrecken

»Die drohenden Gebühren gehören zu einem Gesamtpaket, das überlegen lässt, ob man ein Grundrecht ausübt oder in Anspruch nimmt«, sagt der Rechtsanwalt Sebastian Nickel. Zu diesem Paket gehört unter anderem der sogenannte Präventivgewahrsam, den einige Bundesländer anwenden, bevor Aktivist*innen etwas gemacht haben. Ebenfalls ohne Tat, kassierte die Polizei in Bielefeld Mitte August auswärtige Unterstützer*innen der LG ein, verfrachtete sie zum Bahnhof und belegte sie mit einem Platzverweis. Und im Zuge von bundesweiten Ermittlungen wegen des Verdachts, bei der LG handele es sich eine kriminelle Vereinigung, wurden Wohnungen durchsucht, Konten eingefroren und Telefongespräche abgehört.

Ohne Anecken kein Wandel

»Dieser Paragraph 129 ist ein reiner Ermittlungsparagraph, der selten zu Verurteilungen führt und vor allem abschrecken soll«, urteilt Nickel. »Der Repressionsdruck gegen die LGist enorm und die Strafverfolgung unverhältnismäßig. Das Ganze ist eindeutig eine Kriminalisierung«. Dabei seien die Ziele der LG im Wortsinn konservativ und sollten eigentlich Staatsräson sein. »Aber in unserer autozentrierten Gesellschaft mit ihrem an Autofahren gebundenen Freiheitsbegriff werden Klebeaktionen regelmäßig als Nötigung gewertet und nicht, was auch möglich wäre, als legitime Protestform des zivilen Ungehorsams«, ergänzt Sebastian Nickel.
Die harte Gangart, als ginge es um den Staatsfeind Nr. 1, fügt sich ein in eine weit verbreitete Ablehnung. »Vernachlässigt wird aber, dass vor allem die Aktionsform abgelehnt wird, nicht aber das Ziel Klimaschutz, das eine starke Mehrheit teilt«, sagt Jonas Rees vom ›Institut für Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld‹, das seit 15 Jahren zur Klimabewegung forscht.
Nicht zu belegen sei der Vorwurf, die LG schade mit ihren Aktionen sogar dem Klimaschutz. Im Gegenteil. »Man muss die Klimabewegung von der LG über ›Extinction Rebellion‹ bis ›Fridays For Future‹ als Ganzes sehen - mit einer Aufgabenteilung«, erklärt der Wissenschaftler. »Die LG erzeugt Aufmerksamkeit und macht so andere Organisationen noch mal anschlussfähiger für viele Menschen«.
Die Organisation vertrete in ihrer Radikalität eine Minderheitenposition – wie früher die Friedens- oder Anti-Atomkraft-Bewegung. »Eine Bewegung braucht solche Positionen«, betont Rees. »Man erzeugt keinen gesellschaftlichen Wandel, ohne anzuecken«. Das wissen auch El Blodig, Christian Behrends und ihre Mitstreiter*innen von der LG. Sie wollen weitermachen, anecken und stören. Für das Klima und eine lebenswerte Zukunft.

 

Lust auf Lokaljournalismus?

Lust auf Lokaljournalismus?  Wir suchen Mitstreiter (m/w/d) für unsere ehrenamtliche Redaktion

Wir suchen Mitstreiter (m/w/d) für unsere ehrenamtliche Redaktion
Die ›Viertel – Zeitung für Stadtteilkultur und mehr‹ erscheint seit 2006 drei Mal jährlich mit Themen für und aus dem »Bielefelder Westen«. Wobei es auch um den Blick über das Quartier hinausgeht und wie sich große Themen, Trends und auch Entscheidungen in Berlin oder Düsseldorf in der Nachbarschaft niederschlagen. Wir legen Wert auf Unabhängigkeit, pflegen das journalistische Handwerk leidenschaftlich und lieben den feuilletonistischen Plauderton.

Das erwartet Dich:

  • Recherchieren von Themen
  • Schreiben von Artikeln
  • Redigieren und Optimierung von Texten
  • Enge Zusammenarbeit mit Kolleg*innen aus der Fotoredaktion
  • Weiterentwicklung der ›Viertel‹

Das bringst Du mit:

  • Neugier
  • Kreativität
  • Lust auf Austausch und Diskussion

Das bieten wir:

  • Journalistisches Know-how
  • Umfassende Einarbeitung
  • Du wirst Teil eines motivierten Teams
  • Grenzenloser Raum für Eigeninitiative & spannende Aufgaben

Wir setzen uns für Diversität, Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit ein. Unterschiedliche Lebenswirklichkeiten und Perspektiven sehen wir als Bereicherung.
Na, Lust bekommen? Dann schreib einfach eine Mail an: post@die-viertel.de
Wir freuen uns schon auf das Kennenlernen – in einer Sitzung der ehrenamtlichen Redaktion bei Kaffee, Kuchen und Bier.